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Donnerstag, 26. September 2013

Küchenprosa - Frauen

by Thomas Gainsborough
Der Brief

Krachend stoben Scherben und feinste Splitter Mutters Porzellanteller von der Wand in die tiefsten Winkel der Küche. Jahre später fand ich noch einige von ihnen hinter Herd und Küchenschrank. Es folgten die Tasse und die große Salatschüssel. Die Terrine verschonte sie, sie war die einzige, die wir noch hatten. Mutter hatte die Küchentür von innen verschlossen und tobte, wie eine wütende Frau nur toben konnte. Großmutter bügelte die Tischwäsche, Mutters Schwester faltete sie sorgfältig und schrankgerecht, ich besprengte Geschirrtücher mit lauwarmem Wasser und meine Schwester ersetzte fehlende Knöpfe an Bett- und Kissenbezügen. Wir sprachen kein Wort. Das Zischen des heißen Bügeleisens beim Aufsetzen auf den feuchten Stoff und der Duft der frisch gebügelten Wäsche umhüllten uns in der tobenden Stille mit dem bedrückenden Dunst der Gewissheit auch diese Aufgabe meisten zu können. Ich atmete langsam und konzentriert. Auch Großmutter und meine Schwester waren mehr auf ihren Atem bedacht. Das Bügeln, Befeuchten, Nähen und Falten war handübliche Nebensache. Dann wurde es still in der Küche. Wir sahen uns an, lauschten, hielten inne, für einen Augenblick, und arbeiteten weiter. Nach einer Weile weckte uns der Duft von Gebackenen und frisch gebrühtem Kaffee. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, Großmutter schaltete das Bügeleisen aus. Meine Schwester schnitt den Nähfaden ab und legte die Nadel zurück in die kleine Schachtel. Meine Tante legte das letzte Geschirrtuch auf den Stapel zu den anderen und ich goss das restliche Wasser aus der kleinen Schüssel in den Topf des Gummibaums. Mutter öffnete die Tür und lächelte uns mit rotem Gesicht und verweinten Augen entgegen. Sie hatte den Küchentisch mit ihrem schönsten Porzellan und den bestickten Leinenservietten gedeckt. Auch die weißen Kerzen in den Kristallhaltern hatte sie entzündet und lud uns zu Kaffee und Waffeln mit Sahne und Himbeeren aus unserem Garten. Mutter wirkte gefasst und zerbrechlich, ihr welliges Haar hatte sie aus ihrem Gesicht gestrichen. Ein leises Grollen unter ihrer Haut überschlich mich als sie mich in ihre Arme schloss, mir liebevoll über mein Haar strich und versicherte, es werde alles gut. Sie roch nach Traurigkeit und aufgeräumter Küche. Wir setzten uns zu Tisch. Noch immer sprachen wir kein Wort. Die Nachmittagssonne tränkte den Raum mit sommerlichem Licht und warf die Blumenranken der Gardine in Schatten an die Wand. Der Kaffee floß dampfend in die Tassen und meine Schwester verteilte eine Waffel auf jeden Teller, Sahne und Himbeeren nahm sich jede selbst. Großmutter hielt wie immer Untertasse und Tasse in der rechten Hand und schloss ihre Augen bei jedem Schluck. Die Silberlöffel ließen die gefüllten Tassen beim Verrühren der Sahne in  kurzem dumpfen Klang erschaudern. Wir aßen und tranken und besprachen die Beerenernte für den nächsten Tag. Dann stand Mutter auf, öffnete die linke Tür des Küchenbuffetts, griff hinein, kam zurück und legte einen geöffneten Brief im amtsfarbenen Kuvert auf den Tisch.

25. September 2013, GvF

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